Glaskugel zum Spiel des Jahres 2023 – ich tippe die Preisträger und die Nominierten
Bald ist es wieder so weit und die Jury des Vereins Spiel des Jahres verkündet die nominierten und empfohlenen Spiele des aktuellen Jahrgangs. Somit muss ich nun die Spinnweben wieder weg wischen und in meine imaginäre Glaskugel zum Spiel des Jahres 2023 schauen. Die Kugel vom letzten Jahr war gar nicht so fehlerhaft und darf somit nochmals für meine diesjährigen Tipps herhalten. Und im Gegensatz zur Meinung meines Beeple-Kollegen Jan in der Kolumne vom letzten Jahr, versuche ich mich tatsächlich in eine Jury von 11 Kritikerinnen und Kritiker hineinzuversetzen. Somit versuche ich mithilfe meiner okkulten Kräfte den gemeinsamen Geschmack der Jury vorauszusehen – natürlich aber auch immer mit der eigenen Meinung kombiniert. Deswegen mache ich mir auch den Spaß, die Platzierungen ganz genau anzukündigen und nicht nur eine Liste von möglichen Kandidaten herunterzuleiern. Trotzdem ist diese Aktion natürlich nur eine Spielerei und sollte nicht zu ernst genommen werden. Meine persönlichen Spiele des Jahres präsentiere ich dann im Sommer, wenn ich euch an meiner Wahl zum Deutschen Spielepreis teilhaben lasse. Dabei gibt es dann sicherlich wieder die ein oder andere Überschneidung mit den folgenden Spielen.
Doch bevor ich dazu komme, müsste ich eigentlich jetzt wieder die bekannte Schallplatte der letzten Jahre abspielen. Denn immer wieder lohnt es sich darauf hinzuweisen, für was der Preis steht und welche Zielgruppen damit erreicht werden sollen. Aber erfahrungsgemäß wird das leider zu selten wahrgenommen. Natürlich lässt sich trefflich darüber streiten, ob nun ein Spiel noch rot oder doch schon anthrazit einzuordnen ist – aber doch bitte nur bei Spielen, die wirklich in dieser Bandbreite liegen und nicht bei Expertenspielen (nur weil man die selbst nach einstündiger Erklärung mit dem spielerprobten Nachwuchs bewältigen konnte). Die Diskussionen um die Listen gehören dazu und machen auch einen gewissen Reiz aus. Aber all zu oft muss ich mich dabei über die ein oder andere Erwartungshaltung wundern.
Sehr intensiv im Vorfeld wird in diesem Jahr das Thema Verfügbarkeit diskutiert. Das hat natürlich Gründe. Auch ich bin bspw. der Meinung, dass HEAT ein Top-Kandidat für das Kennerspiel des Jahres wäre. Ich benutze aber ganz bewusst das Wort "wäre", weil ich der Meinung bin, dass der aktuelle Vertriebsweg nicht den Regularien des Preises entspricht. Auch TURING MACHINE liegt der Jury als deutsche Ausgabe schon länger vor, das Spiel ist aber aktuell noch nicht wirklich im Handel verfügbar (auch wenn es anscheinend schon auf der SPIEL DOCH! verkauft wurde) und sollte deswegen keine Rolle spielen. Oder irre ich mich in meinen Einschätzungen? Ich lasse mich da gerne überraschen.
Wie gewohnt noch eine Bitte, bevor der Blick in die Glaskugel beginnt: konzentriert euch bitte nicht nur auf die nominierten Titel, aus denen dann der zukünftige Siegertitel hervorgehen wird. Für mich sind die Empfehlungslisten fast noch spannender. Denn über diese Listen wird immer wieder aufgezeigt, wie vielfältig Brettspiele heutzutage sind. Zusätzlich tauchen dort meist noch Spiele auf, die ich bisher nicht im Fokus hatte. Und nun, lasst das Spiel beginnen...
Spiel des Jahres
Schon bei meiner allerersten Partie auf der SPIEL 22 in Essen hatte ich das Gefühl, dass DORFROMANTIK – DAS BRETTSPIEL von Michael Palm und Lukas Zach ein guter Kandidat für den roten Pöppel wäre. Und die Partien zuhause und auch bei anderen Gelegenheiten haben diesen Trend immer wieder bestätigt. Allerdings wird man dann im Laufe der Zeit unsicher. Wenn ein Spiel so lange Favorit im eigenen Kopf ist, fängt man an, nur noch die Kritikpunkte zu sehen. Dieser Zweifel hält aber nur so lange an, bis man das Spiel wieder einer neuen Gruppe vorstellt. Denn dann erlebt man erneut diesen besonderen Sog, den das Spiel entfacht. DORFROMANTIK bringt alles mit, was ein würdiger Titelträger benötigt. Zusätzlich kann es auch neue Zielgruppen erschließen. Personen, die ungern kompetitiv spielen (auch kooperativ gegen das Spiel), wird nun ein verlockendes Angebot gemacht: spielt um des Spielen willens. Wer trotzdem um Siegpunkte kämpfen will, kann das aber auch gerne machen. Ähnlich wie damals bei AZUL vertraue ich bei dieser Vorhersage meinem Gefühl beim Erstkontakt – und meine Glaskugel bestätigt mich.
Seit Jahren hört man in der Szene eine gewisse Müdigkeit heraus, wenn neue Spiele des Roll-and-Write bzw. des Flip-and-Write Genres vorgestellt werden. Ist das nicht langsam ausgelutscht? Nein, ist es nicht! Denn wie so oft im Leben gibt es Überraschungen und auf einmal liegt eine kleine Perle auf dem Tisch. So eine Perle ist NEXT STATION LONDON von Matthew Dunstan. Schon in der ersten Partie fühlt sich Altbekanntes erstaunlich frisch an. Und je öfters man den anfangs leeren Stadtplan von London mit farbigen Linien füllt, um so mehr erkennt man die Feinheiten. Manche Spiele sind nach 10 Partien ausgespielt und man hat alles gesehen. Bei NEXT STATION LONDON dahingegen fängt dann der große Spaß erst an.
Ähnliches kann ich auch von SEA, SALT & PAPER von Bruno Cathala und Théo Rivière berichten. Der Einstieg in dieses kleine Sammelkartenspiel ist etwas holprig, aber dann reißt einen die Welle mit. Die besondere Gestaltung mach neugierig und so muss man nicht lange auf Mitspielende warten. Warten müssen dann nur die anderen, die das Spiel auf dem Treff auch mal ausprobieren wollen – denn so schnell gibt man die Karten nicht mehr aus der Hand.
Da sind allerdings so ein paar Schlieren in der Glaskugel, die vielleicht Fehldeutungen zulassen und am Ende kommt alles ganz anders. So könnte zum Beispiel ein HITSTER in der engeren Auswahl dabei sein. Das Spiel kam bei fast allen Gruppen großartig an – selbst bei denen, die keinen Spotify-Premium-Account haben. Aber die direkte Verknüpfung mit diesem Musik-Dienstleister kann auch sehr kritisch gesehen werden. Lange Zeit war auch KUZOOKA einer meiner Favoriten. Spielerisch überzeugt es, auch wenn etwas mehr redaktionellen Feinschliff gut getan hätte. Dann würde ich mich persönlich sehr über ein EVERGREEN freuen, weil es nicht nur durch seine Tisch-Präsenz fängt, sondern auch spielerisch immer zu überzeugen gewusst hat. Gleiches gilt natürlich auch für FUN FACTS, mit dem ich schon einige schöne Abende in sehr unterschiedlichen Runden erlebt habe. Und ein AKROPOLIS als Sieger des As d'Or muss man natürlich auch nennen. Wenn ein verrücktes Konzept auch auf der Liste zu finden sein soll, dann wäre dafür SPACESHIP UNITY ein guter Kandidat. Zu guter Letzt sehe ich als kleinen Geheimtipp für die Empfehlungsliste noch ein RIECHT VERDÄCHTIG.
Kennerspiel des Jahres
Herausforderer gesucht! Allerdings müssen diese es mit CHALLENGERS von Johannes Krenner und Markus Slawitscheck aufnehmen. CHALLENGERS ist alleine schon wegen des integrierten Turnierspiels ein ungewöhnliches Werk, was aber sehr gut in vielen unterschiedlichen Gruppen ankommt – und ja, welches durchaus auch polarisiert. Manche Menschen können mit dem Prinzip eines spielerischen Autobattlers überhaupt nichts anfangen. Aber ein Spiel muss nicht allen gefallen. Mir persönlich ist eine mutige Wahl lieber als das nächste 08/15-Spiel. Insbesondere dann nicht, wenn dieser Paradiesvogel auffällige Qualitäten zeigt. Man darf der Welt da draußen ruhig zeigen, was analoge Spiele so alles können.
Auch wenn Strohmann Games noch ein anderes Eisen im Feuer hat, so hat sich meine Glaskugel auf PLANET UNKNWON von Ryan Lambert und Adam Rehberg als heißen Titelkandidaten festgelegt. PLANET UNKNOWN ist zwar ein weiteres Plättchen-Legespiel, hat aber doch seine besonderen Reize und Kniffe. Und IKEA wird sich im Anschluss an diese Nominierung wundern, warum auf einmal so viele Abdeckhauben verkauft werden. Oder aber, diese werden später als Promo bei der Preisverleihung bzw. bei der nächsten SPIEL verteilt.
Beim dritten Platz auf dem Treppchen konnte ich mich nicht so recht entscheiden. Und weil ich bisher fast nur Favoriten-Titel genannt habe, möchte ich dann noch einmal eine kleine Überraschung präsentieren. Nach 2017 wird es mal wieder Zeit, dass ein Escape-Spiel nominiert wird. Dabei wird gewürdigt, wie toll sich die UNLOCK! Reihe entwickelt hat, die nun in UNLOCK! GAME ADVENTURES von Mathieu Casnin, Thomas Cauët und Jeremy Koch ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Denn durch das Meta-Thema "Brettspielumsetzung" wird ein Kreis geschlossen, der so vorher nicht für möglich gehalten wurde. Wenn das nicht auszeichnungswürdig ist...
Okay, der UNLOCK!-Tipp ist eher mutig und ich hätte auch sicherere Varianten wählen können. QE von Gavin Birnbaum ist ebenfalls auf deutsch bei Strohmann Games erschienen und führt uns spielerisch in das Thema Hyperinflation ein. Leider zündet das nicht in allen Gruppen gleichermaßen und in meinen Gruppen fehlt ein wenig der Langzeitreiz. Deswegen ist es bei mir auch vom Treppchen gefallen, auf dem es lange stand. COUNCIL OF SHADOWS ist dahingegen ein schwergewichtigeres Kennerspiel. Hätte es diesen Auszeichnung früher gegeben, dann wäre der alea Verlag sicherlich schon öfters damit bedacht worden. Aber auch COUNCIL OF SHADOWS wird es dieses Jahr meiner Meinung nach nur auf die Empfehlungsliste schaffen – in guter Gesellschaft mit MARRAKESH von Stefan Feld, der das Schicksal mit dem nicht gewonnenen Kennerspielpreis ebenfalls teilt. Zusätzlich kann ich mir noch ein IKI ganz gut auf der Empfehlungsliste vorstellen.
EDIT: Ich ging eben nochmals den Artikel durch, um die gröbsten Rechtschreibfehler zu beseitigen... Da fällt mir auf, dass ich noch ein Spiel von meiner Liste vergessen habe. Denn als Kennerspiel-Tipp habe ich noch DISCORDIA drauf stehen. Da hatte ich die Glaskugel gestern schlicht zu früh wieder abgedeckt...
Traue ich mir noch eine Vorhersage zum Kinderspiel des Jahres zu? Nein, da ich aus diesem Bereich mittlerweile fast komplett draußen bin und somit mit keiner fundierten Meinung dienen kann. Für diesen Preis sind andere Medienschaffende deutlich kompetenter als ich.
Respekt – das nenne ich mal eine wirkliche Trefferquote!