Orléans Stories von Reiner Stockhausen – erschienen bei dlp games
37 cm bei einem Gewicht von etwa 3.100 g – das sind nicht etwa die Angaben eines Neugeborenen, sondern die physischen Werte von ORLEANS STORIES. Somit wird sofort deutlich, dass wir es mit einem echten Schwergewicht zu tun haben. An manch ein Sackkarren-Crowdfunding-Projekt reicht ORLEANS STORIES damit zwar noch lange nicht heran (ich werfe nur einmal ein GLOOMHAVEN ein), trotzdem hatte ich an der Box bei der letztjährigen SPIEL ganz schön zu schleppen.
Themen... wie der Titel schon vorgibt, werden mehrere Geschichten erzählt. In dieser nicht gerade kleinen Box sind zwei Storys enthalten, weitere sollen folgen. Wie man sich denken kann, ist der Ort der Handlungen immer das mittelalterliche Orléans. Das erste Königreich entspricht dabei einem dicken Historienschmöcker und umfasst in acht Epochen die Entwicklung von kleinen Dörfern zu Städten mit Festungsmauern und Kirchen. Die zweite Geschichte Die Gunst des Königs ist nur etwas weniger episch. Dabei spielt man einen kleinen Adeligen, der im Dunstkreis des Königs immer mächtiger werden will. Da hohe Ämter aber begrenzt sind, kann es passieren, dass während dieser Geschichte manche Adeligen auf der Strecke bleiben. Das Mittelalter war nun einmal keine friedliche Zeit!
Illustrationen… sind glücklicherweise wieder von Klemens Franz. Dessen Arbeiten zu ORLEANS haben mich von Anfang ab begeistert, weil er dabei einerseits seinen Stil beibehalten hat, andererseits aber auch deutliche Anleihen an mittelalterliche Darstellungsweisen nimmt. So auch nun bei ORLEANS STORIES, wie bspw. die Covergestaltung in Art eines Triptychons eindrucksvoll beweist.
Ausstattung… wie man sich aufgrund des Umfangs und Gewichts der Box denken kann, ist einiges an Material vorhanden: unzählige Pappplättchen, Münzen, Ortskarten, Holz-Figuren, Kirchen, Festungen und und und. Dankenswerterweise kommt aber alles wunderbar aufgeräumt daher, da ebenfalls schon ein sehr gut funktionierendes Insert in der Box ist. Der Spielplan hält sogar alles an Ort und Stelle, so dass man die Box recht problemlos hochkant lagern kann.
Neben vielen bekannten Elementen sind vor allem die Storyhefte auffällig. Diese begleiten die Spieler durch die einzelnen Partien und zeigen dabei Seite für Seite die Regeländerungen und neuen Möglichkeiten. Auch die Gebietsplättchen sind ungewohnt, da es bisher egal war, wie die Landschaft rund um Orléans bewirtschaftet wird. Kenner von ORLEANS werden auch das Tableau mit den Segensreichen Werken suchen. Diese kommen nun einzeln als kleine Tableaus daher. Ist ein Werk vollständig vollbracht wird es umgedreht und nun besteht eine neue Situation. Außerdem skalieren die Werke besser mit der Personenanzahl, da nicht immer alle im Einsatz sind.
Ablauf… ist natürlich ähnlich zu ORLEANS – aber auch wieder ganz anders! Weiterhin werden Personenplättchen aus einem Beutel gezogen und auf Aktionsfelder platziert. Über diese rekrutiert man neue Personen oder wird rund um Orléans aktiv. Aber anstatt zu reisen und Kontore zu bauen, wird man nun im kleineren Maßstab aktiv. Denn es gilt die Landschaften um das eigene Dorf zu besetzen und die dortigen Erträge zu erwirtschaften. Später gründet man noch Dörfer, die man wiederum genauso wie die Landschaften mit Festungen schützen will. Denn nur dann sind die Besitzstände von Dauer und können nicht von raubenden Nachbarn übernommen werden.
Zusätzlich bestimmt ein zentraler Markt das Angebot an Plättchen – und damit meine ich nicht nur Warenplättchen, sondern eben auch Personenplättchen. Auch das eigene Tableau ist zu Beginn wesentlich aufgeräumter und wird erst nach und nach während der Geschichte erweitert. So steht bspw. die Universität zur Ausbildung von Gelehrten anfangs noch gar nicht zur Verfügung.
Die beiden Storys bringen unterschiedliche Abläufe ins Spiel. Bei Das erste Königreich müssen nach und nach in beliebiger Reihenfolge Aufgaben erfüllt werden. Es gewinnt, wer diese Liste zuerst abgearbeitet hat. Dabei durchwandert man verschiedene Epochen, die wiederum mit eigenen Regeln daher kommen. Der Clou daran ist, dass man selbst entscheidet, wann man einen Epochenwechsel durchführt, so dass die Mitspielenden in unterschiedlichen Epochen sein können.
Die Gunst des Königs ist dahingegen eine Art Ausscheidungswettbewerb. Über 6 Runden bestehend auf 4 Jahreszeit-Phasen müssen zum Rundenende Aufgaben erfüllt sein. Hat man einer dieser Aufgaben nicht erfüllt, dann bekommt man die gelbe Karte. Hat man dann die zweite Aufgabe nicht erfüllt, sieht man die rote Karte und ist komplett draußen (mit Anfängern kann man aber auch noch erst mit einer Ermahnung beginnen). Das Problem daran ist, dass die Erfüllung mancher Aufgaben gleichbedeutend sind, dass andere diese dann nicht mehr erfüllen können. Denn wenn ich bspw. eine bestimmte Anzahl an Gebieten kontrolliere, dann kann jemand anderes aufgrund des begrenzten Angebots nicht ebenfalls auch diese Anzahl an Gebieten kontrollieren. Die Gunst des Königs geht also nicht nur ungewohnt ruppig mit Faulenzern um, sondern fördert durch die gestellten Aufgaben auch das konfrontative Spiel.
Das gefällt mir nicht so gut: Ich kann verstehen, warum man den Namen ORLEANS nutzt, um diesem neuen Spielsystem einen entsprechenden Rahmen zu geben. Das ergibt auch Sinn, weil vieles bekannt und vertraut ist. Allerdings fehlt dabei der deutliche Warnhinweis, dass sich das Spielgefühl von ORLEANS STORIES deutlich von ORLEANS unterscheidet. Es werden diejenigen getäuscht und enttäuscht, die ein Spiel erwarten, bei dem man friedlich vor sich hin spielt und dabei bestmöglich seinen Beutel und damit die Aktionen optimiert. Das ursprüngliche ORLEANS ist eher konfliktscheu und es gibt wenig direkte Interaktion, die sich lediglich durch das Wegnehmen von Plättchen ergibt. ORLEANS STORIES ist hingegen ganz anders. Selbst in der ersten Geschichte Das erste Königreich gibt es ein Hauen und Stechen um Landschaften und um die ziemlich begrenzten Rohstoffe. In Die Gunst des Königs wird das noch auf die Spitze getrieben, da man hier aktiv auf die Mängel bei den Mitspielenden hinspielen kann, damit diese dann beim Kampf um das Sieg ausscheiden müssen. ORLEANS STORIES ist somit keinesfalls mit dem sanftmütigen Wohlfühlspiel zu vergleichen, das man aus ORLEANS kennt. Dies muss man wissen, wenn man sich auf ORLEANS STORIES einlässt.
Genauso muss man wissen, dass die angegebene Zeitdauer für die einzelnen Partien schon ziemlich am Optimum liegen – in Normalfall liegt die Dauer 30 bis 60 Minuten darüber. So kann eine Partie Die Gunst des Königs problemlos 3 Stunden und auch länger dauern. Das ist eine lange Zeit! Zumal man dabei doch eher repetitiv agiert. Jetzt kann man berechtigterweise argumentieren, dass die Spieldauer mit mehr Erfahrung sinken wird. Das ist sicherlich richtig, allerdings muss man die Mitspielenden auch davon überzeugen können, diese Erfahrung überhaupt erlangen zu wollen. Von nicht gerade wenigen Mitspielenden kam nämlich die Rückmeldung, dass sie lieber dreimal am Stück ein ORLEANS spielen als eine weitere Partie ORLEANS STORIES.
Das hat mehrere Gründe. Denn mit wenig Spielerfahrung übersieht man anfangs gerne die Wichtigkeit bestimmter Rohstoffe in Kombination mit dem Mangel an Verfügbarkeit. Holz ist ein immens wichtiger Rohstoff, um aus Landschaften Dörfer und darauf dann später Kirchen zu bauen. Allerdings versiegt die Holzquelle trotz vorhandener Wälder ziemlich rasch. Hat man diesen Rohstoff nicht wertvoll gehütet, kann es passieren, dass sich einzelne Partien regelrecht aufhängen, da man nicht mehr die geforderte Kirche bauen kann. Mit Spielerfahrung passiert das nicht mehr – aber wer will nochmals eine knapp dreistündige Partie spielen, die aufgrund solcher Ereignisse vorzeitig beendet wurde? Hier ist mir das ganze System zu hart – vor allem weil Neulinge nicht wirklich diese Problematik erkennen können. Ich kann verstehen, dass man den Markt begrenzen will. Aber hätte man sich dabei nicht auf wertvolle Güter wie Tuch und Brokat beschränken können? Es ist schwer vermittelbar, dass man zwar Wald und Fischteiche besitzt, diese aber aufgrund eines leeren Marktes nicht nutzen kann.
Ebenfalls auf sehr wenig Gegenliebe stößt die Möglichkeit, bei der Story Die Gunst des Königs vorzeitig ausscheiden zu können. Da ich begeisterter DIPLOMACY-Spieler bin, kann ich damit leben. Ich weiß aber auch, dass viele Mitspielende eine solche Möglichkeit regelrecht verabscheuen. Und man muss berechtigterweise fragen, ob diese Absolutheit notwendig war? Natürlich kann man dadurch sehr konkret destruktiv spielen. Wenn ich dafür sorge, dass niemand sonst die finalen Aufgaben bewältigen kann, dann muss ich mich auch nicht mehr um finale Siegpunkte kümmern. Aber ist ein solches Spielgefühl im Gewande dieses Kennerspiel-Klassikers notwendig? Hätte man so etwas nicht sanfter designen können? Warum verteilt man bspw. beim Nichterfüllen der Aufgaben nicht geheime Schuldbriefe? Am Spielende vergleicht man, wer die meisten dieser Schuldbriefe hat und diese Person scheidet dann sofort aus. Aber eben erst am Spielende und bis dahin sind alle noch am Spiel beteiligt. So denke ich schon, dass man auch auf andere Weise den besonderen Druck aus Die Gunst des Königs erzeugen könnte, ohne dass deswegen Mitspielende vorzeitig ausscheiden müssen.
Neben diesen großen Schwächen, gibt es auch einige Kleinigkeiten, die mich an ORLEANS STORIES stören. Das Regelwerk ist entsprechend umfangreich und auch gut gegliedert, trotzdem waren eigentlich immer noch ein paar Unklarheiten aber vor allem Unsicherheiten beim Spielen vorhanden. So ist bspw. der Begriff der "Bauaktion" unglücklich gewählt, wenn diese etwas ganz anderes meint als die Aktion des Bauhofs. Auch die Aufteilung einzelner Regeln zwischen Storyheft und Regelheft ist zwar nachvollziehbar, aber manchmal nicht ganz so konsequent, wie man sich das erhofft. So sucht man erst im einem und dann im anderen Heft – meist beginnt man beim falschen. Auch nicht glücklich war ich bei Das erste Königreich mit dem Epochen-Mechansismus. Erst wird anfangs angepriesen, dass man dabei flexibel sein und einen eigenen Weg gehen kann. Dann stellt sich aber heraus, dass man bspw. Epoche VII erreicht haben muss, um die notwendige Kirche bauen zu können. Da hatte ich anfangs eine andere Erwartung und mir aufgrund der Ankündigung mehr Flexibilität gewünscht, um vielleicht extremere Strategien spielen zu können.
Wer übrigens eine fesselnde, allumfassende Story erwartet, der wird am Ende auch enttäuscht sein. Natürlich gibt es eine Rahmenhandlung und zu den einzelnen Epochen auch immer ein klein wenig Prosa-Text. Allerdings hat dieser nicht gerade literarische Qualitäten. Mir persönlich ist auch insgesamt der Ton zu flapsig. Vor allem durch das "Stories" im Namen hätte ich noch mehr Geschichten-Elemente erwartet. Das berühmte i‑Tüpfelchen wäre natürlich so etwas wie eine Art Kampagne gewesen, wie man diese in der letzten Zeit häufig bei Spielen von Alexander Pfister genießen kann (AUFBRUCH NACH NEWDALE, MARACAIBO usw.).
Das gefällt mir gut: ORLEANS STORIES besitzt ganz viele tolle Ideen, die allerdings in der Summe vor allem Neulinge überfordern. Vielleicht wäre weniger mehr gewesen. Vielleicht hätte aber auch ein andere Name schon für weniger Unmut gesorgt. Durch die "Stories" im Titel wird das Augenmerk auf einen Bereich gelegt, der insgesamt eher nur beiläufig ist. Wäre das Paket allerdings bspw. unter "ORLEANS EPIC" auf den Markt gekommen, dann hätte sich wohl keiner über die lange Spielzeit gewundert. Oder auch ein "CIVILIZATIONS OF ORLEANS" hätte vielleicht die Verwunderung über den ein oder anderen neuen Aspekt im Spiel vermieden.
Ich mag sehr das Fordernde, das planvolle Spielen auf die einzelnen Aufgaben. Man hat ein Ziel vor Augen und muss versuchen, dieses schnellstmöglich zu erreichen. Dabei darf man sich aber nicht nur auf sich selbst konzentrieren, sondern muss auch immer die anderen Tableaus und deren Möglichkeiten beachten. Und damit sind nicht nur die offensichtlichen Aktionen gemeint. Denn man kann bspw. über die Segensreichen Werke durch den erzwungenen Tauschhandel auch hundsgemeine Winkelzüge machen. ORLEANS STORIES ist keineswegs ein liebes und harmonisches Spiel. Es herrscht Mangel an Landschaften und an Waren – aber das Mittelalter war nun einmal auch keine friedliche Zeit. Für mich passt das und ich kann gut in diese Welt eintauchen. So stört mich auch die lange Spieldauer nicht, da ich mich dabei niemals gelangweilt fühlte. Denn ich habe dauernd ein Ziel vor Augen, dass ich erreichen will. Dabei gilt es mit den Unwägbarkeiten zu leben, die bspw. durch das zufallsbetonte Ziehen der Plättchen aus dem Beutel entstehen. Aber auch schon bei ORLEANS war die Kontrolle über den Beutel durch cleveres Nutzen der Segensreichen Werke ein Schlüssel für erfolgreiches Spielen.
Diese nun flexibleren Segensreichen Werke zeigen aber exemplarisch die Weiterentwicklung des Spielprinzips. Statt in einem recht starren System den optimalen Weg zu finden, hat man nun viel mehr Möglichkeiten. Dabei entwickeln sich die vielfältigen Optionen. Nach und nach werden Aktionen frei geschaltet, das Spiel ist im Fluss. So sind die zu bauenden Gebäude nun auch in drei Baustufen unterteilt, womit auch noch deutlicher die einzelnen Entwicklung betont werden.
Diese Entwicklungsmöglichkeiten werden übrigens vorbildlich in den Story-Heften aufbereitet. Am Anfang ist man von diesen etwas schockiert, da man sich völlig überfordert fühlt. Aber mit der Zeit weiß man diese Hefte zu schätzen. Man kann unabhängig von den anderen jederzeit blättern, was für Gebäude zur Verfügung stehen und was in den nächsten Epochen von einem erwartet wird. Man hat eine Art Nachschlagewerk der Optionen zur Verfügung, was man natürlich auch nutzen sollte. Denn die nächsten Aufgaben werden hier schon verkündet und kommen keinesfalls überraschend. Man sollte also nicht den Fehler machen, nur zur aktuellen Epoche zu blättern sondern auch immer die Zukunft im Blick haben.
Was für die Story-Hefte gilt, kann man auch auf die restliche Ausstattung übertragen: da ist alles durchdacht. Das Insert ist ein wahre Wonne. Einmal sortiert, hält der Spielplan alles an Ort und Stelle und man kann vergleichsweise schnell eine Partie beginnen. Auch die angepasste Symbolsprache ist selbsterklärend und fügt sich stilistsich perfekt ein. Man muss somit ORLEANS STORIES als eine Art Baukasten sehen. Man hat nun das Material zusammen, um Stück für Stück und Story für Story das Spiel weiterzuentwickeln. Und zur Not ist auch noch etwas Luft in der Box.
Fazit: ORLEANS STORIES fordert geradezu Widerspruch heraus. Wer sich bisher in der kuschelig wohligen Welt von ORLEANS gemütlich gemacht hat, der wird sich aufgrund der Kratzbürstigkeit von ORLEANS STORIES verschreckt die Augen reiben. Vielleicht ist dieser Kulturschock auch hinsichtlich der Spieldauer zu viel für einen ersten Schritt gewesen. Zukünftig sollen neue Storys auf den Markt kommen, die wohl etwas einsteigerfreundlicher sind. Das System gibt es her und da mein Spaß am Spielprinzip ungebrochen ist, werde ich da sehr sicher am Ball bleiben.
Titel | Orléans Stories |
Autor | Reiner Stockhausen |
Illustrationen | Klemens Franz |
Dauer | 120 – 180 Minuten |
Spieleranzahl | 2 bis 4 Spieler |
Zielgruppe | Zeit habende Expertenspieler |
Verlag | dlp games |
Jahr | 2019 |
Ich bedanke mich bei dlp games für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars. Ich bin mir sicher, dass durch diese Bereitstellung meine Meinung nicht beeinflusst wurde. Die Besprechung spiegelt meine gemachte Erfahrung wider.
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