Anno 1800 von Martin Wallace – erschienen im KOSMOS Verlag
Da ich schon immer lieber Brettspiele als Computerspiele gespielt habe, kann ich leider nichts zum digitalen Vorgänger von ANNO 1800 sagen. Wer also die Hoffnung auf einen Quervergleich hatte, wird leider nicht fündig werden. Somit kann ich auch schlecht beurteilen, ob Fans der digitalen Vorlage von dieser Brettspielumsetzung enttäuscht sein werden oder nicht. Ich wage allerdings die Behauptung, dass die meisten Brettspielenden keine solchen negativen Gefühle beim Spielen von ANNO 1800 empfinden werden – zumindest dann nicht, wenn von diesen gerne klassische Eurospiele auf den Tisch gebracht werden.
Thema... wir entwickeln in ANNO 1800 eine fiktive Heimatinsel – und fühlen uns dabei doch alles in allem sehr an die Industrialisierung Englands erinnert. Nach und nach werden Industriezweige ausgebaut, die dann wiederum dafür sorgen, dass sich Zugänge zu neuen Techniken ermöglichen. Damit einher geht eine Bevölkerungsentwicklung, die auch noch immer besser ausgebildet wird. Zusätzlich wird auch der Überseehandel aktiviert, wobei tunlichst die Bezeichnung Kolonie vermieden wird. Dabei werden weder von uns Menschen dorthin geschickt noch kommen zusätzliche Arbeitskräfte zu uns. Somit kann man recht geschickt diesen Aspekt ausklammern und muss dazu nicht wirklich Stellung beziehen.
Illustrationen… entstammen scheinbar alle dem Computerspiel. Zumindest sind explizit keine Künstlerinnen oder Künstler angegeben – was ein wenig schade ist, denn die einzelnen Illustrationen müssen sich keineswegs verstecken. So finde ich das Cover beispielsweise großartig gezeichnet. Allerdings fehlt mir etwas der verbindende Geist. Die einzelnen Element für sich sind stimmig, im Zusammenspiel hakt es aber etwas und so wirkt nicht alles wie aus einem Guss. Insgesamt dominiert die Praktikabilität und alles kommt so akkurat geordnet wie eine farbige Excel-Tabelle daher. Was fehlt ist ein besonderer Charme, eine persönliche Note.
Ausstattung… wird dominiert von 120 pappigen Bauplättchen, die alle anfangs richtig geordnet auf dem Spielplan platziert sein wollen. Später wandern diese dann auf die jeweiligen Heimat-Inseln, die dann langsam aber sicher aus den Nähten platzen wird. Deswegen gibt es noch Insel-Erweiterungen in groß ("alte Welt") und in klein ("neue Welt"). Noch zahlreicher vertreten als die ganzen Bauplättchen sind aber die vielen bunten Bevölkerungssteine. Diese kommen in fünf unterschiedlichen Farben daher, die dadurch verschiedene Spezifikationen anzeigen (Bauern, Arbeiter, Handwerker...). Für jeden Bevölkerungsstein, den man im Spiel erhält, zieht man dann eine farblich passende Bevölkerungs-Karte. Zusätzlich sind noch Expeditions-Karten und Auftrags-Karten mit in der Box, wobei aus der letzteren Kategorie immer nur 5 der 20 bei einer Partie zum Einsatz kommen. Der Vollständigkeit halber sind noch die kleinen Handels‑, Erkunden- sowie Gold-Plättchen aufzuzählen. Zusätzlich erhalten alle noch eine Übersicht der Regeln und der angebotenen Bauplättchen.
Das alles ist eine Menge Papier, Pappe und Holz – und alles muss nur durch Zipp-Tüten geordnet in der Box seinen Platz finden. Wie schön wäre doch ein passendes Inlay dafür gewesen...
Ablauf… ist weniger hakelig, als man dies nach Lesen der Anleitung erwartet. Denn wenn man erst einmal verstanden hat, wie die Produktion funktioniert, dann hat man schon ein Großteil der Spielmechanik verinnerlicht. Prinzipiell ist es so, dass man farblich passende Bevölkerungssteine in die Produktionsgebäude schickt. Dort werden imaginär die entsprechenden Waren hergestellt und diese dazu genutzt, neue Gebäude herzustellen oder die Vorgaben der eigenen Bevölkerungskarten zu erfüllen. Diese fordern bspw. ein Bier, eine Glühbirnen und eine Nähmaschine – warum auch immer diese Kombination. Allerdings muss sich die eigene Industrie erst einmal so weit entwickeln, dass überhaupt Nähmaschinen hergestellt werden können. Dafür braucht es als Brückentechnologie die Metallverarbeitung, die Stahlherstellung und einen Investor. Man muss also Produktionsketten erst aufbauen und dann nutzen. Allerdings muss man keineswegs alles selbst produzieren, denn man kann auch recht einfach die Gebäude der lieben Mitspielenden nutzen. Die haben davon keinen Schaden, sondern werden mit Gold aus dem allgemeinen Vorrat belohnt. Allerdings benötigt man für dieses Mitnutzen Handelsplättchen, die einem hauptsächlich durch den Bau eigener Handelsschiffe zur Verfügung stehen. Andere Schiffe benötigt man, um fremde Inseln zu erkunden. Damit gelangt man nicht nur an neuartige Rohstoffe, sondern erzeugt auch eine neue Nachfrage nach unseren Produkten.
Das sind im Kern die Spielideen von ANNO 1800. Im eigentlichen Spielzug setzt man also hauptsächlich verschiedene Bevölkerungssteine ein, bis man keine mehr im eigenen Vorrat hat. Ist das der Fall, feiert man ein Fest – was eine schöne Umschreibung dafür ist, dass man einmal aussetzt und alle Steine wieder von den Produktionsstätten in den eigenen Vorrat legt. Natürlich gibt es noch einige Feinheiten zu beachten, aber im Großen und Ganzen ist das die Spielmechanik.

Das alles macht man mit dem Ziel, nach und nach die eigenen Bevölkerungskarten ausspielen zu können. Dafür bekommt man immer eine sofortige Belohnung und am Ende auch Siegpunkte. Dieses Spielende wird übrigens dann ausgelöst, wenn eine Person all ihre Bevölkerungskarten ausgespielt hat. Dann wird man auch noch mit Siegpunkten belohnt, wenn man erfolgreich die Auftragskarten erfüllt, deren Anforderungen sich zwischen reiner Erfüllung und Mehrheitenwertungen unterscheiden. Eine weitere Möglichkeit, Siegpunkte zu erhalten, sind die Expeditionskarten, für die man am Ende passende Bevölkerungswürfel vorweisen muss.
Das gefällt mir nicht so gut: Anfangs ist es nicht so leicht, einen Überblick zu gewinnen. Die Bauplättchen liegen gefühlt wahllos auf dem Spielplan und es dauert, bis man die Systematik dahinter verstanden hat. Hier hätte vielleicht eine etwas andere grafische Gestaltung mit farblichen Bereichen helfen können. Ebenfalls sehe ich Verbesserungspotenzial bei der beiliegenden Übersicht. Meiner Meinung nach hätte man diese dazu nutzen sollen, die Abhängigkeiten der einzelnen Produktionsstätten aufzuzeigen. Dann würde einem vielleicht auch früher klar werden, wie wichtig bspw. Holz im Vergleich zu den Kartoffeln ist.
Allerdings lernt man schnell, dass man nicht jede Ware selbst produzieren muss – schließlich kann man sich diese meist auch bei den Mitspielenden besorgen. Ärgerlicherweise gibt es allerdings an anderer Stelle eine Einschränkung, die zusätzlich noch mit einem großen Zufallselement ausgestattet ist. Um bspw. Schokolade produzieren zu können, muss ich selbst eine Neue-Welt-Insel entdeckt haben, über die ich mir Kakaobohnen ertauschen kann. Da diese Inseln aber nur eingeschränkt zur Verfügung stehen und zufällig entdeckt werden, kann es durchaus passieren, dass man nie eine eigene Insel mit diesen Kakaobohnen erhält. Es ist mir schon öfters passiert, dass mich eine Entdeckung nicht wirklich weiter gebracht hat. Und die lieben Mitspielenden haben dann teilweise gar kein Interesse, Schokolade zu produzieren, so dass ich notgedrungen meine entsprechenden Bevölkerungskarten austauschen muss. Das ist natürlich kein Beinbruch, aber trotzdem nervig, weil dies mit einem Zeitverlust verbunden ist. Und da ANNO 1800 eine Art Wettrennen darstellt, gilt es effizient zu sein und Zeitverluste zu vermeiden. Dieses Element gefällt mir somit nicht und ich hätte es begrüßt, wenn auch bei diesen Gütern eine Partizipation möglich wäre.
Ohnehin darf man den Glücksfaktor nicht unterschätzen. Es kann schon einen Unterschied ausmachen, welche Handkarten man nun bekommt und welche nicht. Mich persönlich stört das wenig, aber manche haben aufgrund der Spieldauer damit ein Problem gehabt. Denn die Spieldauer ist nicht zu unterschätzen. Vor allem bei den ersten Partien sollte man an die 120 Minuten noch ein dickes + anhängen.
Über die Grafik habe ich mich schon ausgelassen. Leider kommt ANNO 1800 viel zu spröde daher. Dadurch verstärkt sich auch der Eindruck, dass man nur mechanisch agiert. Würfel dorthin schieben, Plättchen nehmen, Karten ausspielen. Man hat nicht das Gefühl, dass man wirklich eine Insel entwickelt. Alles muss in ein Raster passen, so dass selbst die Inseln alle rechteckig daher kommen. Was fehlt sind die Abweichungen, das Aufsprengen des Rasters. Hier besteht noch einiges an Potenzial, um die bestehende Gleichförmigkeit aufzubrechen. Warum nicht auch Gebäude zur Verfügung stellen, die über zwei Rasterflächen gehen? Warum nicht die Insel etwas ausfransen am Rand? Warum nicht die Lage der Gebäude in Relation zueinander setzen? Denn bisher ist die Insel lediglich ein Tableau, das als Ablagefläche fungiert. Dabei wäre es doch bestimmt reizvoll, darüber einen geländespezifischen Aspekt in das Spiel zu bringen. Vielleicht gelingt dadurch auch eine höhere gefühlte Varianz. Denn mit einer gewissen Erfahrung hat man das Gefühl, immer die gleichen Aktionen durchzuführen. Die Auftrags-Karten verändern vielleicht ein wenig die Ausprägung der Spezialisierung, aber das Spielgefühl ändert sich dadurch nicht. Alle Partien fühlen sich seltsam gleich an. Hier wären ein paar Ecken und Kanten von Vorteil, an denen man sich mehr reiben kann.
Zusätzlich habe ich seltener ein Inlay vermisst als nun bei ANNO 1800. Wie praktisch wäre es, wenn man die Bauplättchen der einzelnen Spalten oder Zeilen auch entsprechend geordnet in der Box verstauen könnte. Man muss sich schon ein gutes System erarbeiten, um nicht ewig beim Aufbau mit dem Sortieren der Plättchen beschäftigt zu sein. Eine Partie 1800 dauert ohnehin schon vergleichsweise lange, da wäre zumindest ein schnellerer Aufbau hilfreich.
Das gefällt mir gut: ANNO 1800 ist ein untypisches Eurospiel. Es geht nämlich nicht darum, wertvolle Gebäude zu bauen und dann darüber zu punkten. Die Gebäude sind bei ANNO 1800 nur das Mittel zum Zweck. Ziel ist es vielmehr, so schnell wie möglich Punkte bringende Bevölkerungskarten auszuspielen. Demnach muss man typische Denkmuster dieses Genres aufbrechen. Es ist nämlich nicht wichtig, viele Gebäude zu besitzen. Viel mehr sollte man sich nur auf die zu konzentrieren, die man selbst öfters als andere nutzen muss. Oder aber man schafft ein Angebot für die anderen, damit diese es nutzen. Mit dem so eingenommenen Gold kann man wiederum die Verwaltungsfeste hinauszögern, was wiederum einen Zeitgewinn darstellt.
ANNO 1800 lässt dabei aber auch Raum für verschiedene Strategien. So kann man bspw. gezielt darauf spielen, den Mitspielenden Bevölkerungswürfel vorzuenthalten, da diese begrenzt sind. Vor allem im 4‑Personen-Spiel kann es schnell passieren, dass auf einmal keine Handwerker mehr zur Verfügung stehen. Auch das ist ein Grund dafür, dass sich ANNO 1800 zu zweit deutlich anders anfühlt als zu viert. Hauptsächlich dafür verantwortlich ist aber, dass jedes Produktionsgebäude nur zweimal vorhanden ist. Im 2‑Personen-Spiel besteht somit nie die Beeinträchtigung, dass ich ein Gebäude nicht bauen kann. Theoretisch könnte man also komplett ohne den Handel von Waren spielen. Praktisch ergibt das aber wenig Sinn, da man dadurch einen zu hohen Zeitverlust erleidet. Trotzdem ist das 2‑Personen-Spiel wesentlich konfliktärmer als ein 4‑Personen-Spiel, da man gefühlt im Überfluss agiert.
Wobei man jetzt nicht die Angst haben muss, dass ANNO 1800 mit mehreren Personen ein konfliktreiches Spiel ist. Denn im Kern ist es eher absolut friedfertig: Mir kann niemals etwas weggenommen oder zerstört werden – ein wahrhaft wohliges Spielgefühl. So besteht die Interaktion hauptsächlich darin, den anderen etwas wegzunehmen, womit auch wieder der Wettlaufcharakter deutlich wird. Aber während dieses Wettlaufs ist das Spiel meist sehr harmonisch und man erfreut sich an den vielen erreichten Zwischenzielen. Erst am Ende, wenn das Tempo auf einmal anzieht, kommt ein Konkurrenzgedanken auf.
Wie schon beschrieben, wird recht geschickt das Thema Kolonialismus umschifft. Jeder spürt es, aber trotzdem bleibt es außen vor. Jetzt kann man grundsätzlich darüber streiten, ob solch ein gezieltes Umschiffen zielführend ist oder nicht. Aber ich kann den Verlag schon verstehen, dass dieser Weg gewählt wurde. Zumindest hat man in der Redaktion dafür gesorgt, dass viele unterschiedliche Ethnien auf den Bevölkerungs-Karten abgebildet sind – und das sehr wohl auch in unterschiedlichen Funktionen. Durch diese Karten wird also eine gewisse Diversität erzeugt, die leider noch viel zu selten ist.
Fazit: ANNO 1800 hat mich von Anfang an gepackt. Ich war fasziniert, wie vertraut es einerseits ist und doch auch anders. Gefühlt macht man eigentlich immer die gleichen Aktionen, trotzdem ist man gefesselt davon und versucht ein Zwischenziel nach dem anderen zu erreichen. Trotzdem würde ich mich über etwas mehr Abwechslung freuen – optimalerweise auch unter stärkerer Einbeziehung unterschiedlicher Inseln und spezifischeren Gebäuden.
Titel | Anno 1800 |
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Autorenschaft | Martin Wallace |
Grafik | Fiore GmbH |
Dauer | 120 Minuten |
Personenanzahl | 2 bis 4 Personen |
Zielgruppe | strategische Kennerspielrunden |
Verlag | KOSMOS |
Jahr | 2020 |
Hinweis | für die Besprechung wurde vom Verlag ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt |