Glaskugel zum Spiel des Jahres 2020 – ich tippe die Preisträger und die Nominierten

Es ist wieder so weit! In einer Woche verkündet die Spiel des Jahres Jury die nominierten und empfohlenen Spiele des aktuellen Jahrgangs. In manchen Redaktionen werden die Sektkorken knallen, in anderen wird der Sekt dahingegen wieder ungeöffnet aus dem Kühlschrank genommen. Auf alle Fälle knistert in der Szene langsam die Spannung. Somit wird es also auch wieder Zeit für den alljährlichen Blick in meine Glaskugel.
Das Ganze ist natürlich von meiner Seite nicht all zu ernst gemeint. Glücklicherweise ist das Spielen (und das darüber Schreiben) für mich nur ein Hobby. Somit kann ich es mir auch erlauben, nicht unbedingt einen vollständigen Blick über den Jahrgang haben zu müssen. Dabei rutscht vielleicht auch mal eine Perle durch mein Raster oder ich überschätze die Wirkung eines Spiels maßlos. Deswegen bin ich auch immer gespannt auf die Listen der Jury. Was muss ich mir noch ansehen? Was habe ich bisher vielleicht verpasst?
Aktuell wird im Rahmen der Verkündung der Golden Geek Awards wieder eifrig über den Sinn und Zweck von Spielepreisen diskutiert. Ich selbst sehe die Fülle auch etwas kritisch, was mich allerdings nicht davon abhält, selbst bei der Vergabe des BEEPLE Award mitzuwirken. Aber auch wenn es viele unterschiedliche Preise gibt, so wird das Spiel des Jahres nicht ohne Grund als Oscar der Spieleszene bezeichnet. Die Jury macht seit Jahrzehnten gute Arbeit – und muss sich natürlich immer dem Gemurre aussetzen, dass sowieso die falschen Spiele ausgezeichnet werden. Die Meisten von diesen Murrern vergessen aber die Zielrichtung, die mit dem Preis einher geht. Ich rate also allen später Enttäuschten, sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, für was der Preis steht und welche Zielgruppe damit erreicht werden soll. Aus diesem Grund sollte man auch nicht nur die nominierten Spiele beachten, sondern auch die weiteren, die auf den Empfehlungslisten stehen. Denn über diese Listen wird immer eine tolle Bandbreite abgedeckt, die zeigt, wie vielfältig Brettspiele sind.
Doch genug der allgemeinen Einleitung, kommen wir zum eigentlichen Thema und meinen Tipps. In den letzten Jahren hatte ich den Siegertitel zum Spiel des Jahres immer recht zuverlässig hervorgesagt; beim Kennerspiel des Jahres hatte ich aber meine Schwächen. Dieses Jahr könnte das anders laufen – aber auch nur dann, wenn ich mit der Einschätzung richtig liege, dass DIE CREW als Kennerspiel eingestuft wird. Darüber wird schon seit Herbst intensiv diskutiert und ich gehöre der Fraktion Kennerspiel an. Diese Frage nach der Zugehörigkeit klingt vielleicht ein wenig akademisch, ist aber tatsächlich für meine Tipps von großer Bedeutung, da die Einschätzung der richtigen Antwort so eine Art kippender Dominostein ist. Liege ich damit falsch, verschieben sich viele andere Titel.
Beruflich arbeite ich zwar immer mal wieder mit unterschiedlichen Szenarien, aber damit will ich euch hier und heute nicht belästigen. Ich entscheide mich für das mir am wahrscheinlichsten Szenario und richte daran meine Tipps aus. Am Ende kommt sowieso wieder alles anders, womit ich zu Herbert Grönemeyer abschweifen könnte. Mache ich aber nicht! Hier nun also meine Tipps…
Spiel des Jahres
Beim Spiel des Jahres habe ich lange mit mir gehadert und meine Meinung schwankte ständig zwischen drei Titeln hin und her. Nun endlich habe ich mich festgelegt und mich für TRAILS OF TUCANA von Kristian Amundsen Østby und Eilif Svensson entschieden. So hundertprozentig kann ich es aber gar nicht festmachen, was am Ende den Ausschlag für dieses tolle Flip-and-Write-Spiel gegeben hat. Vielleicht die Tatsache, dass es perfekt in die Corona-Zeit passt und somit ein Spiegelbild aktueller Zeiten ist. Vielleicht aber auch der Wunsch, dass endlich mal ein Vertreter des Roll-and-Write-Genre ausgezeichnet wird. In den letzten Jahren kamen einige schöne Titel auf den Markt und TRAILS OF TUCANA muss sich keinesfalls hinter diesen verstecken.
Ebenso gut könnte ich mir auch MY CITY von Reiner Knizia vorstellen. Darüber werde ich bald auch noch ausführlicher schreiben, da wir nun endlich die Kampagne beendet haben. Kampagne? Ja, denn MY CITY ist ein Legacy-Spiel. Aber keine Angst: es ist auch nach der Kampagne noch problemlos spielbar und muss nicht entsorgt werden. Bis es aber überhaupt dazu kommt, sind 24 Partien zu spielen. Dabei verändern sich die Regeln moderat – ebenfalls auch der eigene Spielplan durch den ein oder anderen Aufkleber. Liebhaber epischer Legacy-Spiele werden über MY CITY vielleicht die Nase rümpfen, da nicht wirklich eine Geschichte erzählt und vor allem auch erlebt wird. Trotzdem hat MY CITY mehr als nur seine bloße Daseinsberechtigung. Meiner Meinung nach ist es ein sehr guter Einstieg in diese Art Spielsystem und für das entsprechende Zielpublikum des Preises absolut zu empfehlen.
Als drittes nominiertes Spiel habe ich NOVA LUNA auserkoren. Ich selbst mag es gar nicht so gerne, da in meinen Partien öfters das Königmacher-Problem aufgetreten ist. Trotzdem kann ich die dahinter liegende Eleganz dieses abstrakten Spiels anerkennen. Außerdem wäre der Preis auch den beiden Autoren-Urgesteinen Uwe Rosenberg und Corné van Moorsel zu gönnen. Allerdings stellt sich bei NOVA LUNA noch die Frage, ob es nicht vielleicht doch schon ein Kennerspiel ist. Der Ablauf ist eingängig, doch die Wertung mag erst einmal verstanden sein.
Kommen wir zu den Empfehlungen. Ganz vorne mit dabei ist KITCHEN RUSH. Das würde ich persönlich sogar zum Spiel des Jahres küren – jedoch ist mir bewusst, dass das Spiel nicht überall auf Gegenliebe stoßt und deswegen wohl nicht den Thron erklimmen wird. Verdient wäre es aber in meinen Augen! Denn bei KITCHEN RUSH wird stimmig ein bekanntes Thema transportiert und man kann wunderbar Stück für Stück an den gestellten Aufgaben wachsen. Ziemlich sicher bin ich mir auch noch, dass PUSH auf der Empfehlungsliste landen wird. Das ist eines dieser kleinen genialen Kartenspielen, die man immer und überall spielen kann. Bei PUSH wird der Push-Your-Luck-Mechanismus auf das Wesentliche reduziert, was wunderbar funktioniert und uns schon einigen Spielspaß bereitet hat. Für die Fraktion "taktisches 2‑Personen-Denkspiel" werfe ich MANDALA in den Ring, was nicht nur wegen des ungewöhnlichen Spielplans auffällig ist. Ziemlich sicher bin ich mir auch noch bei PICTURES. Das bedient perfekt die sogenannten Partyspieler und hätte sogar Chancen auf das Siegertreppchen gehabt, wenn noch mehr redaktionelle Sorgfalt am Werk gewesen wäre. Als weiteren Tipp sehe ich DRAFTOSAURUS, was eine schöne Optik mit einem leichtem Zugang zum Drafting-Mechanismus verbindet. Ähnliches könnte man von LITTLE TOWN und dem Worker-Placement-Mechanismus behaupten. Allerdings rechne ich in diesem Fall nicht mit einer Empfehlung, da dieses Spiel doch auch ein wenig hakelig sein kann. Längere Zeit hatte ich auch TINY TOWNS im Blick – kein Wunder, bei der schönen Ausstattung. Da dieses Spiel aber vor allem beim ersten Kennenlernen meist ziemlich frustrierend ist, wäre es vielleicht nicht das optimale Spiel für die Zielgruppe. Stattdessen möchte ich noch BUNTES BURANO ins Spiel bringen. Diese kleine, feine Kartenspiel kommt zwar unscheinbar daher, hat aber eigentlich immer alle Mitspielende recht schnell fangen können. Zu guter Letzt noch ein Tipp für Liebhaber chaotischer Spiele. Mit CRASH TEST BUNNIES kommt Mario Kart Feeling auf den Tisch und es werden die Ellenbogen ausgefahren. Großes Kino ins kleiner Schachtel!
Kennerspiel des Jahres
Nach der Einleitung ist es keine Überraschung mehr, dass ich DIE CREW von Thomas Sing als kommendes Kennerspiel des Jahres ansehe. Kein Spiel war im letzten Jahr mehr in aller Munde. Der Großteil sprach fasziniert davon, wenige konnten damit gar nichts anfangen. Noch intensiver wurde aber fast schon diskutiert, ob das Spiel Neueinsteigern zu viel zumutet oder nicht. Kann man im Lande von SKAT und DOPPELKOPF (bzw. für meine Freunde aus Bayern SCHAFKOPF) Neulingen das Können abverlangen, wie man vernünftig ein Stichspiel zu spielen hat? Oder muss man sie mehr an die Hand nehmen – insbesondere dann, wenn man ohnehin schon einzelne Missionen durchspielt. Das sind für mich interessante, aber eher auch akademische Fragen, die 99 Prozent der Nutzer wohl ziemlich egal sind. Diese wollen ein interessantes Spiel – und das kann DIE CREW absolut bieten. Allerdings wären Neueinsteiger in meinen Augen etwas überfordert von den Ansprüchen, weswegen DIE CREW für mich ein sehr gut geeignetes Kennerspiel ist.
Aber vielleicht irre ich mich auch bei der Einschätzung und DIE CREW wird doch in den Bereich des roten Pöppel eingeordnet. Dann steht ein zweites Spiel parat, dass den dann nun verwaisten Platz mit Freude einnehmen wird: DER KARTOGRAPH von Jordy Adan. Schon wieder ein Flip-and-Write-Spiel, welches aber wesentlich anspruchsvoller als TRAILS OF TUCANA ist und deswegen ganz sicher dem anthraziten Pöppel zuzuordnen ist. Die wechselnden Wertungen und die vielen kleinen kniffligen Entscheidungen beim Puzzeln von Pentominos laden zum Tüfteln ein. Selbstredend kann man auch DER KARTOGRAPH wunderbar über Videokonferenzen spielen, weswegen es ebenfalls ein Spiel für die aktuelle Corona-Zeit ist.
Als drittes Spiel auf dem Kennerspiel-Treppchen sehe THE KING'S DILEMMA von Lorenzo Silva und Hjalmar Hach. Das ist ein außergewöhnliches Legacy-Spiel, welches ich selbst aber leider noch nicht gespielt habe. Dafür benötigt man schon die richtige Gruppe, die mir aktuell ganz profan fehlt. Aber alles, was ich bisher darüber gehört und gelesen habe, bestärkt mich in der Meinung, dass dieses Spiel von der Jury mit einer Nominierung bedacht wird.
Und dann? Was kommt auf die Empfehlungsliste? Das ist immer eine schwere Sache, da die Bandbreite des Kennerspiels ungleich größer ist als beim roten Pöppel. Relativ sicher bin ich mir noch bei PALADINE DES WESTFRANKENREICHS, den Mittelteil der Westfrankenreich-Trilogie von Shem Philipps. Dann bin ich mir sicher, dass wir ein Spiel von Alexander Pfister auf der Empfehlungsliste finden werden. Anfangs dachte ich, dass es MARACAIBO wird, weil ich es so großartig finde. Allerdings muss man zugeben, dass es objektiv auch so seine Schwächen hat, die mich selbst zwar nicht stören, die aber durchaus für Missfallen sorgen können. Gut, dass Alexander Pfister mit NEWDALE noch ein zweites Eisen im Feuer hat. Aufgrund der späten Veröffentlichungen sehe ich keine Chancen der Erwähnung für PARKS und WASSERKRAFT (auch wenn ich dieses als BARRAGE schon länger bei mir stehen und schätzen gelernt habe). Dahingegen kann ich mir noch vorstellen, dass RES ARCANA empfohlen wird, auch wenn es mir persönlich nicht ganz so gefällt. Bei RUNE STONES ist der Kartenmechanismus zwar große Klasse, aber das Spiel dahinter ist mir zu konventionelles Tauschen von X zu Y. Da gehe ich eher davon aus, dass noch MARCO POLO II auf dieser Liste erscheint. Das ist nun trotz gewisser Unübersichtlichkeit zugänglicher als der geniale Vorgänger. Dann habe ich noch WATERGATE auf meine Liste – auch, weil es so schön kontrovers diskutiert wurde. In erster Linie aber deswegen, weil es ein ziemlich spannendes 2‑Personen-Spiel ist.
Zu guter Letzt fände ich es charmant, wenn noch ein reines Solo-Spiel auf einer der Listen auftauchen würde. Leider glaube ich nicht daran, auch wenn bspw. PALM ISLAND etwas für den roten Pöppel wäre. Aber vielleicht werde ich überrascht und der ein oder andere springt über seinen Schatten oder wird überstimmt. Ohnehin fehlen bei meiner Aufzählung sicherlich noch viele andere interessante Titel. SIMILO: MÄRCHEN ist beispielsweise so ein Grenzgänger zwischen blau und rot. Apropos blau: bei der Vorhersage zum Kinderspiel des Jahres mache ich übrigens nicht mit. Aus diesem Bereich bin ich mittlerweile fast komplett draußen, da habe ich ganz einfach keine fundierte Meinung.
Was im Bereich "roter Pöppel" in meinen Augen völlig übersehen wird und für mich als Topfavorit gilt, ist "Spicy" von Heidelbär Games. Das Spiel bietet straffe einfache Regeln, ist optisch herausragend und setzt im Kern auf einem bekannten Mechanismus (Mäxchen) auf – das war vor einigen Jahren ja schon einmal der Garant zum Sieg (Kingdomino). Wir haben bei keinem Spiel in diesem Jahr so viel gelacht, und die Kinder (8 und 11) sind auch nach zig Partien immer noch begeistert.
Mein persönlicher Favorit für das Kennerspiel ist "Glen More II Chronicles": Exzellentes Material, Kennerniveau bei einfachem Kernmechanismus und durch die Chronicles Potenzial zum Expertenspiel – wenn man das denn möchte.
SPICY hat möglicherweise auch das Problem, dass es zu spät auf den Markt kam. Dieses Spiel lebt von Gruppen und den direkt zu erlebenden Emotionen. Mir persönlich gefällt in diesem Bereich allerdings LUNATIC noch einen Ticken besser.
Bei GLEN MORE II bin ich mir nicht sicher, ob es die ganzen Chronicles gebraucht hätte. Aber das Spiel hat schon was.
Rico from Sweden here. My high school German unfortunately sucks so I read this blogpost google-translated so I might have missed something, but very nice and interesting read.
I for one is in camp SdJ when it comes to Die Crew, but I can see it go either way.
My list (based on the fact that Die Crew is not a Kenner) is available on the geek: https://boardgamegeek.com/geeklist/272534/spiel-des-jahres-and-kenner-predictions-2020
Thanks again!
//Rico
Uiiiiiih, das hast Du aber mal gut getroffen!